Während meiner Kindheit war meine Mutter mit dem zweiten Bildungsweg beschäftigt und studierte, weshalb ich viel Zeit bei meiner Großmutter verbrachte. Sie lebte in einem Haus etwas außerhalb der Ortschaft, mit einem schönen Blick ins Tal, der bis hinunter zum Fluss reichte. Jeden Morgen, bevor ich zur Schule ging, sagte mir meine Mutter, ob ich mittags nach Hause kommen oder zu meiner Großmutter gehen sollte. Wenn ich zu ihr musste, stieg ich drei Haltestellen früher aus dem Schulbus aus. Oft sah ich meine Großmutter im Garten arbeiten, während der Bus am Grundstück vorbeifuhr. Manchmal ging ich direkt von der Schule aus zu ihr, um mir die Wartezeit auf den Bus zu ersparen. Dann war ich schon im Haus, als der Bus vorbeifuhr.
Die Tage bei meiner Großmutter waren geprägt von spannenden Geschichten. Sie erzählte von ihrer Heimat, dem Leben in der Steppe und ihrer Kindheit. Sie sprach oft von ihrem Vater, der im Ersten Weltkrieg für das Zarenreich gefallen war, und von der Zeit, als die Nazis in den Osten kamen und sie ihre Heimat verlassen musste. Sie zeigte mir gerettete Gegenstände und sprach von vielem, was verloren ging. Für mich waren diese Geschichten aufregender als jeder Film. Ich fühlte mich als kleiner Junge oft direkt in die weite eurasische Steppe versetzt.
Immer wieder stellte ich meiner Großmutter Fragen über ihre Heimat: wie es dort aussah, wie die Menschen lebten und warum sie nach Deutschland gekommen war. Besonders interessierte mich, warum sie ihre schöne Heimat verlassen musste. Auf diese Frage antwortete sie stets knapp: „Sibirien ist der Gefrierschrank der Welt, und wir durften nicht bleiben.“
Trotzdem fragte ich weiter. „Was bedeutet dieses Wort, Oma?“ oder „Wie sieht es dort aus?“ und „Wie ist das Wetter in der Steppe?“ Sie ließ sich nie anmerken, dass ich sie nerven könnte, sondern beantwortete geduldig jede Frage und machte daraus oft ein Spiel.
Meine Großmutter lebte als Selbstversorgerin. Sie stellte fast alles selbst her – von Obst und Gemüse bis hin zu Schnaps und Seife. Sie nähte ihre Kleidung, Bettdecken und Kissen selbst, stickte Tischdecken aus ihrer Heimat und reparierte ihre Schuhe. Sie hackte Holz und erledigte alle Arbeiten im Haus und im Garten alleine, da mein Großvater bereits vor meiner Geburt verstorben war. Ich half oft mit und lernte dabei früh, wie man mit Werkzeugen wie Hake und Axt umgeht.
Das Haus meiner Großmutter war einfach, und jedes Zimmer wurde auf eine andere Weise beheizt. Wenn sie mich morgens weckte, war es oft bitterkalt, aber sie hatte meine Kleidung immer auf dem Ofen vorgewärmt. Sie stand jeden Morgen um 6 Uhr auf, machte Feuer und wärmte das Wasser, damit ich mich waschen konnte.
Manchmal holte meine Mutter mich ab, wenn sie von der Uni kam, aber gelegentlich durfte ich auch bei meiner Großmutter übernachten. Ich liebte ihre selbstgemachten Daunendecken, die so dick waren, dass man kaum darüber hinwegsehen konnte. Weniger begeistert war ich von den harten Strohmatratzen.
Meine Großmutter wohnte nicht weit vom Friedhof, und sie ging fast täglich dorthin, um das Grab meines Großvaters zu pflegen. Wenn ich bei ihr war, musste ich immer mitkommen. Der Weg dorthin war beschwerlich, da man einen steilen Berg hinaufsteigen musste. Ich erinnere mich gut daran, wie meine Großmutter eines Tages nicht mehr zum Friedhof ging, weil das Grab eingeebnet wurde. Sie versuchte mir das als Kind zu erklären, doch ich verstand es damals kaum.
Es war eine prägende Zeit, in der ich viel gelernt habe – über das Leben, über eine andere Kultur und über Speisen, die in Deutschland selten waren. Auch die Süßigkeiten, die ich bei meiner Großmutter bekam, waren immer selbstgemacht. Während andere Kinder draußen spielten, half ich im Garten oder genoss die selbstgemachten Leckereien. Obwohl ich nicht viele Kontakte hatte, gab es doch ein paar Freunde, mit denen ich etwas Zeit verbrachte.